Maria Noichl (SPD) ist Abgeordnete im Europäischen Parlament und dort Mitglied im Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter.
Seit dem Tag nach dem britischen Referendum vor vier Jahren wird viel über den möglichen Ablauf und die Auswirkungen des Brexits diskutiert und spekuliert. Eine Frage kommt allerdings so gut wie gar nicht vor. Sie lautet: Was bedeutet der Brexit für Großbritanniens Frauen?
Derzeit befindet sich Großbritannien in Sachen Gleichstellung im Vergleich der europäischen Mitgliedstaaten auf Platz fünf, Tendenz: sinkend. Die tatsächliche und vollständige Gleichstellung der Geschlechter ist alles andere als sicher – und der Brexit wird auf die Unsicherheit einzahlen.
Frauenrechtsorganisationen im Land schlagen bereits Alarm, denn sie bezweifeln die Ankündigung der Regierung, dass der Brexit nicht zulasten der Frauen gehen wird. Dabei unterscheiden führende Organisationen Auswirkungen vor allem auf zwei Ebenen: Rechte und Gesetze sowie die sozioökonomische Situation der Frauen.
Derzeit beruhen viele der britischen Gesetze im Bereich der Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik auf EU-Gesetzgebung. Dazu gehören beispielsweise Richtlinien zum Schutz der Rechte von schwangeren Arbeitnehmerinnen oder zur Beseitigung des „Gender Pay Gaps“ und rechtliche Grundlagen und Werte, wie der Wert der Gleichheit und die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern (Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 3 des EU-Vertrags).
Diese Ziele sind zudem in Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert, die für die Mitgliedstaaten verbindlich ist. Die Grundrechtecharta regelt die Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung auf Grund des Geschlechts, der Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.
EU-Gleichstellungsrichtlinien gelten nach dem Brexit nicht mehr
Die Durchsetzung dieser Rechtsvorschriften wird durch den Europäischen Gerichtshof geregelt, der jedoch nach dem Brexit keine rechtsüberprüfende Kompetenz mehr über die Gesetze in Großbritannien haben wird. Damit wird den Frauen vor Ort ein wichtiger Schutzschirm entzogen werden.
Die Auslegung der Gesetze wird zur nationalen Angelegenheit – und einige Organisationen haben Angst davor, wie diese Rechte künftig ausgelegt werden konnten, denn britische Gerichte vor Ort sind nicht für ihre progressive Art bekannt. Und das Recht auf Gleichstellung ist in Großbritannien nicht von einer Verfassung gesichert.
Im Protokoll des Rückzugabkommens verpflichtet sich das Vereinte Königreich lediglich zur Sicherung von sechs europäischen Rechts-Richtlinien. Diese gehen zwar vom Grundsatz der Gleichbehandlung beim Zugang zu Dienstleistungen und Gütern bis hin zur Chancengleichheit und Gleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt, decken bei weitem aber nicht alles ab.
Der Austritt aus der EU hat zwar nicht zur Folge, dass die anderen von Großbritannien übernommenen Rechtsvorschriften automatisch unwirksam werden, bietet aber dem Land die Möglichkeit, diese zu überarbeiten, ohne dabei gewisse Mindeststandards zu halten, die vorher garantiert werden mussten. Rückschritte sind also erlaubt.
Die Angst davor mag für viele übertrieben klingen, ist aber nicht ganz unbegründet, betrachtet man das bisherige Verhalten der letzten britischen Regierungen in den Verhandlungen über die neusten Gleichstellungsrichtlinien der EU, der Richtlinie zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. London hat sich für nur wenig ambitionierte Ziele eingesetzt und somit die Annahme einer weiterreichenden Richtlinie verhindert.
Und das, obwohl diese Richtlinie auf Grund des Brexits nicht einmal in britisches Recht übernommen werden muss. Auch bei der Blockade der Richtlinie zur Quote in Aufsichtsräten spielt Großbritannien eine große Rolle.
Wenn durch den Brexit der wirtschaftliche Druck auf Großbritannien wächst und das Land gleichzeitig nicht mehr von den EU-Ländern zur Progressivität gedrängt wird, wächst die Versuchung, hinter die bisherigen Standards zurückzufallen und weiterem Fortschritt eine Absage zu erteilen.
Frauen werden wirtschaftliche Einschnitte durch den Brexit stärker spüren
Viele Berechnungen gehen derzeit von einem rückläufigen britischen Bruttoinlandsprodukt aus, so dass eine Abkehr vom Sparkurs, der 2010 begann, kaum zu erwarten ist. Vielmehr sind Arbeitsplatzabbau, der Druck auf die Gehälter und Renten sowie auf den Gesundheits-, Kultur- und Sozial-Bereich nicht auszuschließen. Frauen sind hier bereits jetzt schlechter gestellt und werden weitere Einschnitte stärker spüren.
Sie sind zudem als Hauptnutzerinnen von öffentlichen Dienstleistungen (z.B. Betreuung von Kindern und anderen Angehörigen), Arbeitnehmerinnen im öffentlichen Dienst, aber auch im Niedriglohnsektor sowie als unbezahlte Hauptverantwortliche für Familienarbeit stärker durch eine schlechte wirtschaftliche Lage und die daraus resultierenden Maßnahmen betroffen als Männer.
Preiserhöhungen, Engpässe bei Nahrungsmitteln und Medikamenten durch höhere Zollgebühren und größere Handelshemmnisse würden als Folge daher Frauen direkter belasten als Männer.
Besonders bitter wird der Stopp von direkter Unterstützung aus der EU. Über Programme wie „Daphne“, „Rechte, Gleichstellung und Unionsbürgerschaft“ sowie die europäischen Sozial-, Struktur- und Investmentfonds wurden Frauen und das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter im ganzen Land unterstützt.
Vor allem Frauenrechts- und Hilfsorganisationen in sozial schwächeren Regionen des Landes werden Schwierigkeiten haben, ihre Programme ohne diese Förderung aufrechtzuerhalten. Bisher ist nicht bekannt, wie die britische Regierung diese finanzielle Lücke ausgleichen will.
Der Tag des Ausstiegs ist nun gekommen. Während der einjährigen Übergangsfrist wird sich für die Bürgerinnen und Bürger zunächst nicht viel ändern. Diese Zeit muss die britische Regierung nutzen. Will sie dafür sorgen, dass ihre Bürgerinnen und Bürger weiterhin in einem weitestgehend gleichgestellten Land leben können? Dann muss sie handeln.
Es braucht eine nationale Strategie
Sie muss die bisher aus der EU übernommenen Vorschriften sichern, Rückschritte ausschließen und den Frauen und Frauenrechtsorganisationen die Unterstützung zusichern, die sie in Zukunft benötigen. Eine nationale Strategie zur weiteren Gleichstellung, die alle Bürgerinnen und Bürger im Auge haben, muss erarbeitet werden.
Dazu gehört auch ein gender-Kapitel, welches in den kommenden Handelsabkommen verbindlich eingeführt werden muss, um Rückschritte im Bereich der ArbeitnehmerInnenrechte oder der Gleichstellungsstandards im Zeichen der Deregulierung zu verhindern.
Die Verhandlungen rund um den Brexit haben viel Aufmerksamkeit gebunden. Es ist Zeit, diese wieder auf die Menschen zu legen. Die gemeinsame und grenzüberschreitende Arbeit für die Gleichstellung der Geschlechter und Frauenrechte muss bleiben.